In wenigen Jahren an die Weltspitze

Die Mannschaftsverfolgung ist seit Jahrzehnten die Paradedisziplin im Radsport. In Deutschland basiert das auf den großen Erfolgen der 60-ger und 70-ger Jahre, als Gustav Kilian, der Goldschmied der Nation, den deutschen Vierer von einer Goldmedaille zur nächsten führte. 16 WM-Titel holten ost- und westdeutsche Vierer in den letzten Jahrzehnten, dazu fünf Olympiasiege.

Die Geschichte der Mannschaftsverfolgung der Frauen ist viel jünger, sie wurde erst 2008 WM-Disziplin (zunächst nur mit drei Fahrerinnen) und ist seit 2012 olympisch. Im Premierenjahr gewannen Charlotte Becker, Verena Jooß und Alexandra Sontheimer die Bronzemedaille. Das wiederholten Franziska Brauße (Eningen), Lisa Brennauer (Durach), Lisa Klein (Erfurt) und Gudrun Stock (München) 2020 in Berlin, wo sie ebenfalls auf den dritten Rang fuhren. Dazwischen waren es eher erfolglose Jahre, manchmal schaffte man gerade so die Qualifikation.

Ab 2018 bekam der Vierer wieder Schwung: Und das war auch der Verdienst von Lisa Brennauer, die man überredete, wieder auf die Bahn zurückzukehren. Bei der WM in Apeldoorn (Niederlande) belegten Stock, Brennauer, Becker und Brauße Platz fünf. In Pruszkow (Polen) reichte es ein Jahr später zum sechsten Platz. Lisa Klein hatte inzwischen den Platz von Charlotte Becker eingenommen. Und Mieke Kröger kam wieder dazu, die bereits 2016 in Rio gefahren war. Der Erfolg bei der Heim-WM in Berlin machte Lust auf mehr: Die Olympischen Spiele von Tokio waren das Ziel.

Damals ahnte allerdings noch niemand, dass der Weg nach Tokio steinig werden würde, und sehr lange dauerte. Corona verordnete eine lange Wettkampfpause. Als die Spiele dann endlich beginnen konnten, wusste niemand so wirklich, wo man steht. „Wir hatten unsere Zeiten, aber es gab keine Vergleiche mit der Konkurrenz“, sagte Bundestrainer André Korff vor Tokio. Der gebürtige Rostocker ließ sich nie verunsichern, blieb ruhig, spulte seine Vorbereitung routinemäßig ab. „Wir sind ein zusammengewürfeltes Team. Da braucht es schon jemand, der uns zusammenbringt, der realisiert, was wir draufhaben. Er hat uns keinen Druck gemacht,“ lobte Lisa Brennauer die Arbeit des Bundestrainers.  Was Korff weiterhin auszeichnet, ist sein unheimliches Fingerspitzengefühl. Er erkennt sehr schnell, wo die Stärken und Schwächen einzelner Athletinnen liegen, weiß sie perfekt einzusetzen, besetzt die Positionen im Vierer optimal. Und bediente sich auch ungewöhnlicher Trainingsmethoden. Weil die Frauen die meiste Zeit des Jahres mit ihren Firmenteams unterwegs sind, ist die gemeinsame Trainingszeit knapp und muss sehr effektiv gestaltet werden.

Diagnose-Trainer Peter Müller und Lucas Schädlich, verantwortlich für den weiblichen Ausdauer-Nachwuchs im BDR, wurden vor Tokio eingesetzt, ebenso zwei erfahrene männliche Athleten aus professionellen Strukturen. Marco Mathis vom Frankfurter RC 90 und Franz Groß vom RC Luckau trainierten in Frankfurt/Oder gemeinsam mit den Frauen und brachten sie weiter nach vorn, trieben sie zu noch höheren Geschwindigkeiten an. Maßgeblichen Anteil hat aber auch Männer-Trainer Sven Meyer. Er ist mitverantwortlich für die technische Entwicklung. Angefangen von den Zeitfahranzügen, über Reifen, Lenker, Helme und Rahmenbau, Meyer arbeitet sehr eng mit den Herstellern zusammen.

Im Velodrom von Izu holte das Quartett Franziska Brauße, Lisa Brennauer, Lisa Klein und Mieke Kröger nicht nur die Goldmedaille, sondern verbesserte gleich dreimal den Weltrekord. Es war eine Sternstunde im deutschen Bahnsport und dabei soll es nicht bleiben. Und es war erst die zweite Goldmedaille im Frauen-Ausdauerbereich für den BDR. 1992 gewann Petra Roßner in Barcelona Gold in der Einerverfolgung.

So soll es natürlich weitergehen: Bei den Europameisterschaften in Grenchen setzte der deutsche Frauen-Vierer erneut ein Zeichen, fuhr sich locker ins große Finale gegen Italien und distanzierte die Konkurrentinnen um mehr als sieben Sekunden. Das sind im Bahnrennsport Welten.

„Ich habe mir nach Olympia gesagt, ich nehme jeden Wettkampf wie er kommt. Ein Highlight jagt das nächste, das muss man erst einmal verarbeiten. Wir haben das heute hier super toll abgeschlossen. Ich freue mich für mich und für die ganze Mannschaft. Gegen Ende konnten wir gegen Italien unsere Stärke ausspielen, wir haben einen ziemlich gleichmäßigen Lauf hingelegt,“ freute sich Lisa Brennauer über ihre dritte Goldmedaille in diesem Jahr. Mit Kröger und Lisa Klein gewann sie erst vor gut zwei Wochen den WM-Titel im Mannschaftszeitfahren auf der Straße.

Lisa Klein, die wegen einer Schulter-Operation für den Rest des Jahres ausfällt, wurde durch Laura Süßemilch aus Aulendorf ersetzt, die bereits als Ersatzfahrerin nach Tokio gereist war. Die 24-Jährige war bereits dreimal EM-Dritte mit dem U23-Vierer. „Laura hat sich in den letzten zwei Jahren sehr gut entwickelt, fährt sehr konstant und fügt sich nahtlos in den Vierer sein,“ sagt Bundestrainer Korff, der auch ihre Leistungen beim Nations-Cup in Cali lob, wo sie Zweite in der Einerverfolgung vor Lena-Charlotte Reißner wurde. „Sie hat sich in der Einerverfolgung um mehr als acht Sekunden gesteigert. “

„Das bedeutet mir richtig viel. Ich war vorher sehr aufgeregt, mit so einer tollen Mannschaft am Start zu stehen. Davon habe ich schon in Tokio geträumt. Jetzt bin ich einfach nur überglücklich“, freute sich Süßemilch über den Triumph im Grenchen.

Auch Lena Charlotte Reißner vom SSV Gera, die in der Qualifikation des Vierers in Grenchen eingesetzt wurde, strahlte auf dem Podium. Korff beschreibt sie als sehr zurückhaltende, ruhige Person, die in ihrem Leistungsvermögen in diesem Jahr einen großen Sprung gemacht hat. Reißner hat ihre Sache gut gemacht, aber im Finale vertraute Korff dann wieder auf die Erfahrung von Lisa Brennauer, die später angereist war, weil sie am Samstag noch bei Paris-Roubaix gestartet war und dort Vierte wurde.

Und der Vierer rollte in Grenchen wie auf Schienen: Franziska Brauße, die starke Anfahrerin, Lisa Brennauer, die den Schwung aufnimmt, Laura Süßemilch, die Tempo macht, und Mieke Kröger, die Korff gern als „Dieselmotor des Vierers“ bezeichnet. Ist sie einmal auf Touren, ist sie nicht mehr zu stoppen. „Ich bin sehr froh, dass wir unsere Strategie wieder anwenden und wir das Ding nach Hause fahren konnten“, sagte Kröger nach dem EM-Sieg.

Auch Franzi Brauße musste eine Zwangspause einlegen, war nach Olympia an Corona erkrankt. „Wer weiß, wozu diese Zwangspause gut war. Ich bin super stolz auf die Mannschaft. Die zwei neuen im Team haben es super umgesetzt“, lobte sie. Und Reißner ergänzte: „Ich bin glücklich und  stolz, mit so einer tollen Mannschaft die Quali bestritten zu haben.“

Das Quartett fuhr in der Qualifikation mit 4:18,655 Minuten die Bestzeit, holte in der nächsten Runde nach ca. 3000 Metern den Vierer aus den Niederlanden ein und ließ sich im Finale gegen Italien nicht aus der Ruhe bringen, als diese das Rennen sehr schnell angingen und zeitweise in Führung lagen. „Die Italiener sind volles Risiko gegangen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so lange mitgehen. Wir sind relativ ruhig geblieben und haben das Ding super nach Hause gefahren“, lobte Bundestrainer Korff.

Und nach dem Erfolg von Grenchen steht schon in zwei Wochen das nächste Ereignis auf dem Programm der Verfolgerinnen: die Bahn-Weltmeisterschaft in Roubaix. Und dort wollen sie natürlich auch Gold. Und wenn das klappt, kann es am Jahresende nur noch einen Wunsch geben: In Baden-Baden zur Mannschaft des Jahres gekürt zu werden. Das hätten sich diese starken Damen und ihr Trainer mehr als verdient!

 

Bild: Letzte Anweisungen vor dem Start: Bundestrainer Korff und der Frauen-Vierer. Foto ausschließlich bei Veröffentlichung dieses Textbeitrages kostenlos nutzbar.

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