Stefan Bötticher hat sich hauchdünn für die Olympischen Spiele in Paris im Teamsprint qualifiziert. Dass es der Ex-Weltmeister überhaupt in einen internen nationalen Ausscheid schaffte, grenzt an ein Wunder, denn noch im Herbst 2023 musste sich der Chemnitzer einer Bandscheibenoperation unterziehen. Großen Anteil am geglückten Comeback hat eine neue Trainingsform.
4/1000 Sekunden Vorsprung – also weniger als eine Reifenstärke – haben Stefan Bötticher zum zweiten Mal das Ticket zu den Olympischen Spielen eingebracht. Neben den bereits gesetzten Luca Spiegel (Offenbach) und Maximilian Dörnbach (Cottbus) setzte sich der 32-Jährige Ende Mai in einem internen Stechen der Kurzzeit-Nationalmannschaft in der Oderlandhalle in Frankfurt (Oder) gegen Nik Schröter aus dem Track Team Brandenburg durch. „Ich habe schon geahnt, dass es eine knappe Geschichte wird. Ich hatte etwas das Glück auf meiner Seite“, sagte Bötticher nach dem Duell erleichtert.
Schröter hatte einen Großteil der Olympia-Qualifikation für die deutschen Teamsprinter bestritten, Bötticher fehlte über weite Strecken der vergangenen Saison aufgrund von Verletzungen – inklusive aller Höhepunkte wie Welt- und Europameisterschaft sowie Champions League. Der 32-Jährige, Sprint- und Teamsprint-Weltmeister von 2013 und langjährige Stütze in der Nationalmannschaft, konnte aber beim Nations Cup in Kanada im Frühjahr 2024 mit einer guten Zeit überzeugen und wieder einmal sein Potenzial andeuten. Das reichte für das Stechen.
Im entscheidenden Ausscheidungsrennen war der Chemnitzer in 13,008 Sekunden minimal schneller als Konkurrent Schröter (13,012). „Stefan hatte neben der schnelleren Zeit auch einen besseren Weg-Zeit-Verlauf, was die Zwischenzeiten angeht und auch leichte Vorteile bei der Geschwindigkeitsübergabe“, erklärte Jan van Eijden. „Natürlich ist so eine Entscheidung an einem Tag immer brutal. Und wenn es so knapp ist, ist es doppelt hart. Aber vier Tausendstel sind vier Tausendstel“, begündete der Bundestrainer seinen Nominierungsvorschlag, der bei Bötticher für große Erleichterung und bei Schröter natürlich für tiefe Trauer sorgte.
Gesundheitliche Rückschläge ziehen sich wie ein roter Faden durch die Karriere von Stefan Bötticher – so verpasste er auch die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro. 2018 wurde er Keirin-Europameister, 2019 WM-Dritter im Kampfsprint. 2021 in Tokio war der Bundespolizist zwar dabei, blieb hier aber mit seinen Ergebnissen in Teamsprint (5. Platz), Sprint (13.) und Keirin (15.) weit hinter seinen und anderen Erwartungen zurück. Für Paris drohte sich die Rio-Geschichte zu wiederholen. 2023 fiel der Chemnitzer nahezu durchgängig mit Rückenbeschwerden aus, verpasste alle Meisterschaften. Im Herbst unterzog sich der gebürtige Thüringer dann der erlösenden Bandscheibenoperation. „Danach musste ich erst wieder laufen lernen, habe im Training bei null begonnen. In einem Bein habe ich immer noch ein Taubheitsgefühl“, schildert er heute.
Großen Anteil am geglückten Comeback und der zweiten Olympia-Teilnahme hat neben seinen Chemnitzer Heimtrainerin Andreas Hirschligau und Ralph Müller („Ich bin erst einmal riesig erleichtert, dass sich die Mühen – auch mit dieser Vorgeschichte – so ausgezahlt haben“) auch eine Frau: Dr. Katharina Dunst, Fachgruppenleiterin Radsport beim IAT, dem Institut für angewandte Trainingswissenschaften.
Aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit – erst im November 2023 durfte Bötticher nach erfolgreicher Reha wieder bahn-spezifisch trainieren – wählte er zusammen mit Dunst einen völlig neuen Ansatz für sein Training: das geschwindigkeits-basierte Krafttraining (velocity based training). Hierbei trackt ein Sensor die Bewegungsgeschwindigkeit. Jede einzelne Übung wird per App dokumentiert und mit dem Trainerteam für die weitere Trainingssteuerung ausgewertet. „Wir mussten uns entscheiden, welche der Leistungskomponenten das größte Potential für die Endperformance haben und welche wir liegen lassen, weil wir es zeitlich nicht mehr bis Paris schaffen. ,Böttis‘ Training ist jetzt – anders als bei den Anderen – intensiv auf die vielversprechenden Bereiche akzentuiert“, erklärt Dr. Katharina Dunst. „Wir brauchten den Mut zum Paradigmenwechsel, von einem volumen-orientierten Training zu einem qualitativ hochwertigen, dosierten intensiven Training“, ergänzt die Trainingswissenschaftlerin.
Stefan Bötticher zeigte sich von Anfang offen für den neuen Weg – sicherlich wohlwissend, dass es auch die letzte Chance sein könnte, auf den Olympia-Zug nach Paris aufzuspringen. „Ich wollte nicht in zehn Jahren dastehen und sagen müssen, wir haben so weiter gemacht wie bisher, obwohl wir wussten, es hätte vielleicht eine andere Möglichkeit gegeben. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass ich meine Limits erreicht hatte. Wenn man ein höheres Level erreichen will, muss man manche Dinge von Bord schmeißen und Neues ausprobieren. Deshalb habe ich mich dem Trainingskonzept komplett geöffnet und versucht, das Unmögliche zu schaffen“, sagt Stefan Bötticher.
Und das neue Training hat funktioniert. Dass es am Ende 4/1000 Sekunden Vorsprung waren, danach fragt schon jetzt niemand mehr. Und bis zu den Olympischen Bahn-Wettbewerben in St. Quentin-en-Yvelines hat der Chemnitzer noch etwas Zeit, weiter an seiner Performance zu arbeiten. Dann sind neben dem Teamsprint auch Einzelstarts nicht ausgeschlossen. „Für mich ist es ein riesengroßer Traum, der in Erfüllung geht. Ich kann das noch gar nicht begreifen, dass ich meine zweiten Spiele, was wohl meine letzten werden, erlebe“, sagt Stefan Bötticher.
Im Porträt
Team: Chemnitzer PSV
Geb.: 01.02. 1992 in Leinefelde
Wohnort: Chemnitz
Olympia-Teilnahme: 1 (Tokio)
Erfolge:
2009: Silbermedaille Junioren-Weltmeisterschaft Sprint, Teamsprint (mit Eric Engler und Erik Balzer)
2010: WM-Zweiter Sprint, WM-Dritter Teamsprint (mit Robert Kanter und Philip Hindes), 1. J-DM Keirin, Sprint
2011: Goldmedaille Bahnrad-Weltcup in Cali – Sprint, U23-Europameister – Sprint, Keirin, Teamsprint (mit Erik Balzer und Joachim Eilers), 1. DM Sprint
2012: 1. Weltcup in Glasgow – Sprint, Keirin, Teamsprint (mit René Enders und R. Förstemann), U23-Europameister Sprint, Keirin, Teamsprint (mit Erik Balzer und Eric Engler), Deutscher Meister – Sprint, Keirin, Teamsprint (mit Max Levy und Max Niederlag)
2013: Weltmeister – Sprint, Teamsprint (mit René Enders und Maximilian Levy)
2014: WM-Zweiter Sprint, Goldmedaille Bahnrad-Weltcup in London Keirin, Deutscher Meister Sprint, Keirin
2018: Europameister Keirin, Silbermedaille Europameisterschaft Sprint, Bronzemedaille Europameisterschaft – Teamsprint (mit Timo Bichler und Joachim Eilers)
2019: Bronzemedaille WM Keirin
2021: Bronzemedaille Weltmeisterschaft – Teamsprint (mit Joachim Eilers, Nik Schröter und Marc Jurczyk), Goldmedaille Champions League in Palma Keirin, Goldmedaille Champions League in London 1. Tag Keirin, Goldmedaille Champions League in London 2. Tag Keirin
2022: Deutscher Meister – Sprint, Keirin
Stefan Bötticher privat
Welchen Traum möchtest du dir im Leben noch erfüllen? Eine Familie gründen.
Was ist für dich ein perfekter Tag? Ausschlafen, ein langes, gutes Frühstück mit gutem Kaffee, in der Sonne am Wasser liegen.
Welche Überschrift möchtest du gern einmal von dir lesen? „Bötticher erfüllt sich den Traum von Olympia“ (habe ich ja eigentlich schon erreicht)
Mit wem möchtest du an der Hotelbar mal ein Bier oder einen Cocktail trinken? Mit Michael Jordan
Was ist dein Lieblingsfrühstück? Schöne frische Brötchen von einem guten Bäcker und dann mit allem drauf, was man so mag.
Was ist deine Lieblingsserie auf Netflix? The last Dance
Was ist dein Lebensmotto? „Hab Spaß bei allem was du machst.“